Montag, 1. Juni 2009
Keiner fand etwas Besonderes dabei
Daß die meisten Deutschen damals, im Februar 1933, an die kommunistische Brandstiftung glaubten, kann man ihnen, scheint mir, nach alledem nicht übelnehmen. Was man ihnen übelnehmen kann, und worin sich zum ersten Mal in der Nazizeit ihre schreckliche kollektive Charakterschwäche zeigte, ist, daß damit die Angelegenheit für sie erledigt war.
Daß man ihnen, jedem einzelnen von ihnen, sein bißchen verfassungsmäßig garantierte persönliche Freiheit und Bürgerwürde wegnahm, nur weil es im Reichstag ein bißchen gebrannt hatte - das nahmen sie mit einer schafsmäßigen Ergebenheit hin, als müßte es so sein. Wenn die Kommunisten den Reichstag angesteckt hatten, war es doch ganz in Ordnung, daß die Regierung "hart zupackte"!
Am nächsten Morgen diskutierte ich diese Dinge mit ein paar Referendarkollegen. Alle waren sehr interessiert für die Täterschaftsfrage des Reichstagsbrandes, und mehr als einer äußerte seine augenzwinkernden Zweifel an der offiziellen Version. Aber keiner fand etwas Besonderes dabei, daß man in Zukunft seine Telefongespräche belauschen, seine Briefe öffnen und seinen Schreibtisch erbrechen durfte. "Ich empfinde es als persönliche Beleidigung", sagte ich, "daß man mich verhindert, zu lesen welche Zeitung ich will - weil angeblich ein Kommunist den Reichstag angesteckt hat. Sie nicht?"
Einer antwortete fröhlich und harmlos: "Nein. Wieso? Lasen Sie denn etwa bis jetzt den 'Vorwärts' und 'Die Rote Fahne'?"


- Sebastian Haffners "Geschichte eines Deutschen", verfasst 1939. Siebzig Jahre später ist sie wieder von unheimlicher Aktualität.

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