Donnerstag, 4. Juni 2009
Meinung #1. Gedanken zur Wahlempfehlung.



Verkehrte Welt: Die Financial Times Deutschland empfiehlt in der heutigen Ausgabe, am kommenden Sonntag sein Kreuzlein bei den Grünen zu machen.
Ich dagegen tendiere diesmal zur FDP, ein absolutes Novum für mich. Nähern wir uns gedanklich dieser Entscheidung:


Schon Wahlen in Massendemokratien bringen diverse Problem für den strategischen Wähler mit sich:
1) Er muss zwischen divergierenden Interessen abwägen. Da er de facto ganze Parteien wählt und nicht über einzelne Punkte abstimmt, gibt er mit seiner Stimme nahezu unausweichlich auch Zustimmung zu Programmpunkten, denen er ablehnend gegenübersteht.
2) Er muss außerdem die Glaubwürdigkeit der Parteien einschätzen. Dass Wahlversprechen gebrochen werden, ist die Regel. Er kann sich also nicht drauf verlassen, dass die Programmpunkte wegen denen er eine Partei gewählt hat, auch umgesetzt werden. Das führt teilweise zu absurden Situationen, die aber natürlich der politischen Realität geschuldet sind. Beispiele sind etwa der Große Lauschangriff und die FDP oder der Kosovo-Krieg und die Grünen.
3) Er muss weiterhin die Koalitionsaussichten im Blick haben. Hamburger Grüne etwa, die sich nichts sehnlicher wünschten, als von Beust und Moorburg loszuwerden, ärgern sich derzeit kräftig über ihre Schwarz-Grüne Koalition.
4) Er muss schließlich mit der Einsicht klarkommen, dass die einzelne Wahlstimme in einer Demokratie nahezu wertlos ist. Selbst bei der äußerst knappen Bundestagswahl 2005 lag der Unterschied zwischen Union und SPD noch bei knapp 400.000 Stimmen.

Der Wähler steht also vor schwierigen Entscheidungen. Sofern er sich nicht dazu entschließt, den Wahlsonntag nützlicher zu verbringen, muss er immer noch aufpassen, durch seine Stimme nicht die gegenteilige Politik zu fördern.

Bei der Wahl des Europaparlaments verschieben sich die Problemfelder noch.
1) Man entscheidet mit der Wahl nur über die Zusammensetzung eines Parlaments mit recht beschnittenen Kompetenzen (jedenfalls bis zur europaweiten Ratifizierung des Vertrags von Lissabon), welches eigenständig keine Exekutive bestimmt, sondern nur bestätigt.
2) Es bilden sich keine formellen Fraktionen, vielmehr herrscht seit Jahrzehnten durchgehend eine inoffizielle Große Koalition.
3) Die Parteien gehen auf in Europafraktionen, deren Glaubwürdigkeit für den Normalbürger kaum einschätzbar ist.
4) Die Wahlprogramme sind im Vergleich zu Bundestagswahlen sehr unkonkret. Was auch Sinn macht, schließlich muss in den Europafraktionen eine weitere programmatische Diskussion stattfinden.

Aufgrund der oben angesprochenen Entscheidungsprobleme bei konkreten Politikfeldern habe ich mir ein primäres Anliegen herausgepickt, welches sich einfach zwischen den Europafraktionen unterscheiden lässt:
Die Einschränkung von Bürgerrechten ist derzeit das zentrale Risiko für die westliche Welt. Die Vorratsdatenspeicherung etwa entspringt einer vom EU-Parlament verabschiedeten Richtlinie. Ebenso hat das Parlament erst kürzlich einen französischen Vorstoß zu Internetsperren geblockt.

Das EU-Parlament hat also erheblichen Einfluss auf die nationale Bürgerrechtsgestaltung. Die Union und die SPD haben gegen den Widerstand der FDP und der Grünen gezeigt, dass von ihnen kein Eingreifen zu erwarten ist. Es kommen also - unter dem von mir ausgesuchten Bürgerrechtsaspekt - nur die Grünen und die FDP infrage. Während beide prinzipiell demnach eine gute Wahl sind (beide fordern im Wahlprogramm etwa gezielt den Stopp der Vorratsdatenspeicherung), spricht eine Sache für die FDP:
Eine Kooperation zwischen Christdemokraten und Liberalen im EU-Parlament ist rechnerisch prinzipiell möglich und hat auch schon stattgefunden. Käme es dazu, hätte eine bürgerrechtsfreundliche Fraktion direkte Mitentscheidungsmöglichkeiten und wäre nicht auf Oppositionshandlungen angewiesen.

Ich halte daher sowohl die Wahl der Grünen als auch die Wahl der FDP für eine richtige Sache. Betrachtet man allein den Bürgerrechtsaspekt, sind die Liberalen die bessere Wahl.

Wer gegenläufige Argumente oder mehr Informationen hat, möge sich gern einbringen. Drei Tage sind eine ausreichend lange Zeit, um Wahlentscheidungen noch umzuwerfen.

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Was Sie sagen macht durchaus Sinn für mich. Aus ganz ähnlichen Überlegungen war ich auch schon fast soweit, dieses Mal mein Kreuzchen der FDP anzuvertrauen. Und dann kommt die Geschichte mit Frau Koch-Mehrin und ich bin wieder so weit wie vorher, denn wie immer man die Sache bewertet, es trägt nicht dazu bei, Vertrauen in die FDP-Gruppe aufzubauen.

Bundespolitisch fällt mir die Entscheidung leichter: Prinzipiell wäre ich wohl bereit, es mal der FDP zu versuchen, das scheidet aber durch die Koalitionsaussage aus. Denn ganz speziell möchte ich dieses Jahr nicht unterstützen: Ursula von der Leyen, Wolfgang Schäuble und "Wilhelm" zu Guttenberg.
Dass ich über die Wahl der Grünen wahrscheinlich Frau Zypries im Amt halte, muss ich dann halt billigend in Kauf nehmen.

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Ja, wahre Worte, die Frau Koch-Mehrin macht es einem potenziellen Wähler nicht leicht.
Ich sehe das einigermaßen pragmatisch: Es geht im Grunde um das Stärken der Europafraktion der Liberalen, die derzeit aus 100 Personen besteht. Frau Koch-Mehrin spielt da insofern keine bedeutende Rolle, als es um Zahlenspiele geht - ist die Gesamtsumme liberaler und grüner Abgeordneter groß genug, bestimmte grundrechtseinschränkende Gesetze zu verhindern? Ist die Gesamtanzahl liberaler Abgeordneter groß genug, um eine (informelle) Koalition mit der EVP-ED zu bilden?
Sicher aber wird die Glaubwürdigkeit der FDP hierdurch in Frage gestellt, was die Grünen noch mehr zu einer ernsthaften Alternative werden lässt.

Ein interessanter Punkt ist noch folgender: Schafft es der pünktlich zur Europawahl enthüllte Skandal, die FDP wieder unter die 5%-Hürde zu bringen, die sie 2004 zum ersten Mal bei einer Europawahl geknackt hat? Umfragen Ende Mai haben die FDP noch bei 9% gesehen, die Gefahr dürfte also nicht all zu hoch sein. Aber auch hierin könnte der strategische (und nicht prinzipientreue) Wähler einen Grund sehen, jetzt erst recht für die FDP zu stimmen.
Aber zugegeben, es verlangt schon ein grobes Hintanstellen von Prinzipien, eine Partei gerade auf Grund eines Skandals zu wählen.

Bundespolitisch kommt noch eine ganze Menge an Schwierigkeiten hinzu. Hier fällt es mir nicht so leicht, die Wahlentscheidung an einen bestimmten Punkt zu koppeln (wie im obigen Beitrag an den Programmpunkt Grundrechtsschutz). Die Parteiprogramme sind detaillierter, die Wahl entscheidet über die Regierungsbildung, die Koalitionsaussichten verändern sich, und - wie Sie sagen - es wird auch eine Personenfrage.

Glücklicherweise ist bis dahin noch etwas Zeit, sich ausgiebig Gedanken zu machen. Ich danke Ihnen jedenfalls für Ihre Anregung!

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